Schal und Mütze

Mein Grossvater kam vom Land. Das Dorf in dem er geboren wurde liegt im Taunus. 

Couple cleaning snow, Ukraine

Deutsches Mittelgebirge nennt man die Gegend, obwohl es eher einer Hügellandschaft gleicht, oder einem von Flüssen zerfurchten Hochplateau. Die Winter seien früher strenger gewesen habe ich als Kind oft von meinem Großvater gehört, auf dem zugefrorenen Rhein sei er in meinem Alter gelaufen. Alte Fotos davon gab es auch, die ich staunend betrachtete. Und dann gab es da diese Anekdote von einem Verwandten aus dem Dorf, dem im Winter auf dem Feld das gefrorene Ohrläppchen abbrach und der mit diesem Stückchen Knorpel und Haut durch den Schnee und bis ins nächste Dorf zum Doktor gegangen sei, in der Hoffnung, es wieder angenäht zu bekommen – was wohl nicht geschah. Die Erwachsenen haben das gerne erzählt und immer wieder darüber gelacht. Ich habe nicht so recht verstanden, warum das lustig sein sollte und mich gefragt, wie lange es wohl dauert, bis so ein Ohrläppchen gefriert, was dieser ominöse Verwandte im Winter auf dem Feld gemacht hat, und warum ihm der Doktor das Ohrläppchen nicht wieder angenäht hat. Auch ob er noch lebt, hätte ich zu gerne gewusst. Und immer wenn wir durch das Dorf meines Großvaters fuhren, in dessen Nähe wir inzwischen ein Wochenendhäuschen hatten, hielt ich Ausschau nach dem Einohrigen, sah ihn aber nie und war mir bald nicht mehr sicher, ob die Geschichte vielleicht nur erfunden war. Bei den Erwachsenen konnte man nie wissen. Von den richtig kalten Wintern, denen im Krieg, vielleicht in Russland oder sonst weit weg vom heimatlichen Dorf, wurde nie erzählt. Und so konnte ich nicht wissen, wie lachhaft meinem Großvater ein abgefrorenes Ohrläppchen vorkommen musste.

Vom Krieg hatte ich wohl gehört, aber das war so weit weg, in vergangenen Jahrhunderten musste das gewesen sein, irgendwann zwischen heute und der Zeit, als noch Raubritter die Burgen am Rhein bewohnten, deren Ruinen es auf den Autofahrten am Wochenende zu bestaunen gab. Dass mein Großvater aus gleich zwei Weltkriegen an Körper und Seele verwundet zurück gekommen war, war schwer vorstellbar. Auch, dass dieser ältere, kleine Mann, der stets altmodische Hüte trug und oft übelriechende Zigarren rauchte, einmal todesmutig auf dem gefrorenen Rhein spaziert war, schien mir unwahrscheinlich. Hatte sein Vater, mein Urgroßvater also, nicht versucht, sich in eben diesem Fluss zu ertränken? Warum er das tat, wurde nicht erzählt. Aber sein Grab gab es auf dem Dorffriedhof und das also war zumindest ein Indiz in all diesen verwirrenden Angelegenheiten.

Der Rhein ist 1963 zum letzten Mal zugefroren. Ein Jahr vor meiner Geburt. Auf einem zugefrorenen Fluss bin ich nie gelaufen. Schon das Betreten von zugefrorenen Teichen oder Tümpeln, und seien sie auch noch so klein, wurde mir von meinen Eltern streng verboten. Es gab in der Stadt, in der ich aufgewachsen bin, aber auch fußläufig gar keine. Ersatzweise haben wir Kinder im Winter zugefrorene Pfützen eingetreten und die Kunst war es, das Eis zu zerbrechen, ohne nasse Füße zu bekommen. Die gestrickten Wollhandschuhe waren mit einer langen Schnur verbunden, die durch die Ärmel der Jacke verlief, damit wir die Handschuhe nicht verloren. Auf meine Mützen habe ich selber geachtet und sie mir immer tief über beide Ohren gezogen. Sicher ist sicher.