Gabriele

Es war kurz nach Weihnachten, als Gabriele anfing, sich ernsthaft Sorgen um ihre Mutter zu machen. Diese hatte ein paar Wochen zuvor eine beinahe zufällig entdeckte Corona-Infektion ohne nennenswerte Symptome praktisch mühelos überstanden.

a blurred lady in a wheelchair in Vienna

Erst einige Zeit später fing die Mutter auf einmal an, sich zu beschweren. Dass sie morgens kaum aus dem Bett komme, den ganzen Tag hindurch völlig matt und niedergeschlagen sei, dass sie, die doch trotz ihres fortgeschrittenen Alters immer noch rüstig und unternehmungslustig war, sich inzwischen selbst kaum wiedererkenne. Nach einer gründlichen Untersuchung bei der Hausärztin dann die schockierende Diagnose: Long Covid – ein Begriff, den sowohl Gabriele als auch ihre Mutter gar nicht kannten, ihn noch nie zuvor gehört hatten. Eine zuverlässige Prognose über den weiteren Verlauf der Krankheit gebe es nicht, zu wenig Erfahrungswerte seien dafür vorhanden, es brauche Geduld.

Gabriele hätte gerne mehr Zeit gehabt, sich um die Mutter zu kümmern. Aber das war kaum möglich. Sie hatte vor ein paar Monaten erst eine neue Stelle angetreten, als Sekretärin des technischen Direktors einer der großen Wiener Bühnen. Für Gabriele war es ein Traumjob. Sie hatte davor fast zehn Jahre lang als Sekretärin des stellvertretenden Direktors der Wiener Stadtwerke gearbeitet, diesen Job aber gekündigt, nachdem ihr Chef in Rente ging und sie mit seinem Nachfolger nicht klar kam – oder er nicht mit ihr, so genau liess sich das gar nicht sagen. Der Aufgabenbereich ihres neuen Jobs glich in vielem dem alten. Das gesamte Umfeld war aber ein komplett anderes und liess sich mit nichts vergleichen, was sie vorher gekannt hatte. Sie fühlte sich sehr wohl mit ihrer neuen Stelle und wollte sie auf keinen Fall gefährden. Also blieben ihr nur die Besuche bei der Mutter zum Feierabend, nach Büroschluss. Da es cornabedingt an dem Theater immer wieder zu Ausfällen und Programmänderungen kam, musste sie mit ihrer Arbeitszeit flexibel sein. Spontaneität und ein Talent zum Improvisieren waren gefragt. Die Stelle, so hatte ihr ihr neuer Chef nach einiger Zeit verraten, hatte sie übrigens unter anderem deshalb bekommen, weil während des Vorstellungsgesprächs auf einmal das Telefon geklingelt hat. Einmal, zweimal, nach dem dritten Mal ging sie einfach ran, wie sie es getan hätte, wenn sie die Stelle bereits bekommen hätte. Sie tat es spontan, einer Eingebung folgend, ohne groß darüber nachgedacht zu haben. Das habe ihm imponiert, sagte ihr neuer Chef zu ihr.

Die Mutter lag meistens im Bett, wenn sie kam. Manchmal hatte sie sich auch in den großen Sessel gesetzt, den Gabriele ihr ans Fenster gestellt hatte. Sie klagte unentwegt. Dass sie es kaum schaffe, morgens aus dem Bett zu kommen, dass sie sich jeden Morgen entscheiden müsse, ob sie dusche oder frühstücken werde, da ihr für beides zusammen die Kraft fehle. Dass sie je länger je mehr das Gefühl habe, das Leben ziehe an ihr vorbei und sie selber schaue nur noch zu. „Bald kommt der Frühling, die ersten Eiscafés machen schon auf und ich sitze die ganze Zeit in der Wohnung und verkomme immer mehr.“ Die Worte der Mutter taten ihr weh. Wenn ich es nur schaffen würde, sie irgendwie unter Leute zu bekommen, dachte sie. Da kam ihr der verhasste Rollstuhl in den Sinn, der seit dem Tod des Vaters vor acht Jahren im Keller stand. An einem Wochenende holte sie ihn hoch, machte ihn sauber, gab mit einer Fahrradpumpe neue Luft in die Reifen und machte daraufhin mit der Mutter zum ersten Mal eine Spazierfahrt. Diese war wider erwarten sofort begeistert. Es machte ihr überhaupt nichts aus, in dem Rollstuhl gesehen zu werden. Sie war ja auch nicht im eigentlichen Sinn darauf angewiesen, ihr fehlte lediglich zum Gehen die Kraft. Das machen wir von nun an öfters, waren die Beiden sich einig.

Vor kurzem, als es am Theater wegen einer kurzfristigen Änderung im Spielplan und dem damit verbundenen Chaos wieder sehr spät wurde, war es schon dunkel, als Gabriele in die Wohnung der Mutter kam. „Auf unsere Spazierfahrt werden wir heute wohl verzichten“, sagte sie „es ist ja schon dunkel draussen, und kühl ist es auch.“ Aber davon wollte die Mutter nichts wissen. „Warum denn das? Wir ziehen uns warm an. Ausserdem sind jetzt fast keine Leute mehr unterwegs, das heisst, die Bahn ist frei für eine richtige Schussfahrt!“ Als sie etwas später am Graben tatsächlich mit hohem Tempo an einem der beleuchteten Schaufenster vorbeikamen, klatschte die Mutter vor Freude in die Hände. Gabriele freute sich mit ihr und wünschte, jemand hätte ein Photo davon gemacht.